by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Oft anstaunt ich dich, stand an gestern...
Language: German (Deutsch)
Oft anstaunt ich dich, stand an gestern begonnenem Fenster, stand und staunte dich an. Noch war mir die neue Stadt wie verwehrt, und die unüberredete Landschaft finsterte hin, als wäre ich nicht. Nicht gaben die nächsten Dinge sich Müh, mir verständlich zu sein. An der Laterne drängte die Gasse herauf: ich sah, daß sie fremd war. Drüben - ein Zimmer, mitfühlbar, geklärt in der Lampe -, schon nahm ich teil; sie empfandens, schlossen die Läden. Stand. Und dann weinte ein Kind. Ich wußte die Mütter rings in den Häusern, was sie vermögen -, und wußte alles Weinens zugleich die untröstlichen Gründe. Oder es sang eine Stimme und reichte ein Stück weit aus der Erwartung heraus, oder es hustete unten voller Vorwurf ein Alter, als ob sein Körper im Recht sei wider die mildere Welt. Dann schlug eine Stunde -, aber ich zählte zu spät, sie fiel mir vorüber. - Wie ein Knabe, ein fremder, wenn man endlich ihn zuläßt, doch den Ball nicht fängt und keines der Spiele kann, die die andern so leicht an einander betreiben, dasteht und wegschaut, - wohin - ?: stand ich plötzlich, daß du umgehst mit mir, spielest, begriff ich, erwachsene Nacht, und staunte dich an. Wo die Türme zürnten, wo abgewendeten Schicksals eine Stadt mich umstand und nicht zu erratende Berge wider mich lagen, und im genäherten Umkreis hungernde Fremdheit umzog das zufällige Flackern meiner Gefühle -: da war es, du Hohe, keine Schande für dich, daß du mich kanntest. Dein Atem ging über mich. Dein auf weite Ernste verteiltes Lächeln trat in mich ein.
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Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die große Nacht", written 1914, appears in Die Gedichte 1910-1922 [author's text checked 1 time against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Julia Schwartz (b. 1963), "Oft anstaunt ich dich", 1995 [ voice and violoncello ], from Zwei Reflexionen, no. 2 [sung text not yet checked]
Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]
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